Michael Hozzel

Jorinde und Joringel -
ein Märchenlied

Waldlichtung

 


1. Vor Zeiten erhob sich, verborgen im Wald,
gar tief hinter dunklen Wipfeln versteckt,
ein marmornes Schloss von düstrer Gestalt,
mit Mauern, die turmhoch zum Himmel gestreckt
und efeuumrankt, von Winden zerzaust,
wie bleiche Gerippe im Mondenlicht klafften:
Dort hat eine Hexe, so heißt es, gehaust,
voll Tücke und finsteren Machenschaften.
 

2. Sie sollte, so ging wohl die Kunde im Land,
von mancherlei Kräutlein, das zwischen den Tannen
gedieh, noch so allerlei wissen, und stand
im Rufe, mit Flüchen und Sprüchen zu bannen.
Manch einer, der, ganz ohne Arg, sich versah,
so wussten die Leute, wer sollt' es verstehn,
ward, wenn er sich einmal am Schlosse zu nah
verlief, wohl verloren und nimmer gesehn.
 
3. Die einen, die briet sie zur Mahlzeit am Herd,
den Rücken gekrümmt und mit kralliger Hand,
die andern jedoch hielt sie eingesperrt
in Käfigen tausenderlei an der Wand.
Die hat sie gefangen in falscher Gestalt,
verwandelt bei Tag, wenn sie fortschlich als Tier,
als Katze vielleicht, oder ausflog im Wald
als Eule im heimischen Jagdrevier.
 
4. Wo immer ein Mägdlein, ein keusches zumal,
zu tief sich im grausigen Walde verirrt',
da mußte es stehen, ihm blieb keine Wahl,
verwurzelt im Stand und noch sinnenverwirrt,
und ward gleich verwunschen am selbigen Ort
zum Vögelein, zitternd und flügellahm,
das, eben verzaubert durch Bannspruch und Wort,
die Hexe alsdann auf ihr Schloss mit sich nahm.
 
5. Zur Mittagszeit stand heiß die Sonn' im Geäst
ausladender hochgewachsener Stämme,
von ferne erhob sich ein Turm, und ein Rest
Gemäuer durchschimmerte blässlich die Kämme
der uralten Bäume: Da gingen erblüht
an Jugend Jorinde, mit ihr an der Hand
Joringel, ihr Bräutigam, selig erglüht
die beiden und tief füreinander entbrannt.
 
6. Wie liebten sie sich, die einander versprochen,
und schritten einher ihres Wegs, doch es tat
Jorinde im Gehen das Herzelein pochen,
so schwer ward es ihr um die Seel', und sie bat,
zu weilen im Grase. Ein Käuzlein, das schrie
so klagend vom Wald her, die Sonne stand rot
wie Blut in den Zweigen, sie wusste nicht, wie
es ihr so geschah, fast als wäre sie tot.
 
7. Wie schlafwandelnd schritten sie weiter den Weg,
sie fühlten sich schwermütig, fast wie von Sinnen,
das Blätterdach raunte, der Bach floss so träg
dahin, so als wollt' er sie mit sich verspinnen.
Gar weh war den beiden ums Herz, und es klomm,
wiewohl sie bei hellichtem Tage doch gingen,
zuinnerst die Angst hoch, Jorinde sprach:"Komm,
ich hör' in der Ferne ein Vögelein singen!"
 
8. Um Atem noch ringend und schwindelnd im Stehn,
da rief sie voll Not, und ihr Antlitz zerfloss:
"Joringel, so lass uns nicht weiter mehr gehen!"
erblickte voll Schauder im Umdrehn das Schloss.
Doch gleich, wie berauscht, so vernahm sie den Klang
der lockenden Stimme, die Wehmut der Lieder,
voll Inbrunst des Vögeleins Klagegesang,
und sank festgebannt jäh zum Grunde hernieder.      
 
9. "Mein Vögelein fein mit dem Ringelein rot
singt leide", so klang es Joringel im Ohr,
"singt leide und singt so dem Täubchen den Tod."
Er zitterte ängstlich, im Herzen gefror
der Mut ihm, dieweil sich ein Nebel erhob,
und dort, wo er eben Jorinde geschaut,
sah er, wie ein Schleier das Buschwerk umwob,
und hörte der Nachtigall klagenden Laut.
 
10. "Zicküth!" so vernahm er's, und fand seine Braut
als Vögelein herzallerliebst im Geäst
gar singen, doch trat flugs aus dornigem Kraut
ein mageres Weiblein, das griff sogleich fest
das Vöglein mit knochiger Hand, und es stieß
das Tier in ein Körblein aus Weide, doch beiden,
das ahnte Joringel voll Wehmut, verhieß
der Zauberin Stimme gar bitteres Leiden.
 
11. Mit schleppenden Schritten her kam sie und greint',
gerötet die Augen, voll Geifer der Mund,
und keifte: "Wenn's Möndel ins Körbel denn scheint,
bind's los' gleich den Zachiel zu guter Stund'!"
So ward er gelöst, und wie sehr ihm im Flehn
die Tränen aus beiden Äugelein rannen,
war's doch um die ach so Geliebte geschehn,
die Hexe, die trug sie im Korbe von dannen.
 
12. Wie mochte Joringel voll Trauer und Gram
die einsamen Jahre verbringen, er schwor,
wann immer er nahe ans Schloss herankam,
er würde erlösen, die er einst verlor.
Und sollt' es geschehn, dass, vor Alter ergraut,
er selber mit Krankheit und Tod dereinst rang,
er wollte sie ewiglich suchen und laut
sie rufen, und wär es sein Leben lang.
 
13. Er pirscht' durch die Wälder und lebte im Tal,
als Hirte im Dorf, und er schaute von fern
aufs Schloss, und im Innern wusst' er: einmal,
da würd ihm vom Himmel ein leuchtender Stern
den Weg zu ihr weisen; wann immer ihr Bild
im Herzen erstand, erstrahlten darin
Jorindeleins Augen und lächelten mild
in Frühlings erblühendem Wiederbeginn.
 
14. So träumte ihm einst, wohl mit wachendem Sinn,
er schritt' in die Ferne, ein Blümlein zu finden,
an Schönheit erstrahlend die Blüte, darin
ein Edelstein glänzte, um loszubinden
die Maid von dem Fluche der boshaften Frau.
Kaum dass er erwachte von solcherlei Gaben,
ging er gleich bei Taglicht und Morgentau
hinaus in die Fremde, das Blümlein zu graben.
 
15. Er fand es nach bittrer Beschwernis am Berg
der Herzen, so nannte man früher den Ort,
er nahm es gleich mit sich, er wollte das Werk
vollenden, und trug gleich das Blümelein fort,
und öffnete, kaum dass im Schlosse er stand,
der Bitternis düstere Kammern, entband
vom Zauber die Vöglein mit heilender Hand,
dort, wo er Jorinde erlöst wiederfand.  
16. Er hat sie sich fest gleich ans Herzlein gedrückt,
und hat sie mit zärtlichen Armen umschlungen,
und rief sie bei all ihren Namen, beglückt,
die er einst aus Sehnsucht ihr zugesungen.
Vertrieben bald wurde die Hexe im Land,
die Leute noch flüsterten lange, zumal
ein jeder, der's wusste, ganz ehrlich befand,
dass niemand erahnte, wohin sie sich stahl.

 


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Intro zu dem Märchengedicht

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Text: Michael Hozzel, Heidelberg

Design und Musik: Rainer Lungershausen (), Heidelberg

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